Michael Beleites

Nachrüstung und Friedensbewegung

Die Überwindung einer Polarisierung im Prozeß der deutschen Einheit
 
 
In der rückschauenden Bewertung des "heißen Herbstes" von 1983 besteht heute eine bemerkenswert weitgehende Übereinstimmung: Mit dem Beschluß zur atomaren Nachrüstung der NATO haben die beteiligten Staaten nicht nur eine "Raketenlücke" geschlossen, sondern im Rüstungswettlauf mit dem Warschauer Pakt den Punkt erreicht, an dem die Sowjetunion wirtschaftlich nicht mehr mithalten konnte. Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums vor zehn Jahren gilt als eine direkte Folge der westlichen Überlegenheit beim Atompoker. Damit ist der Sieg der Demokratie in den osteuropäischen Staaten ganz wesentlich ein Erfolg derjenigen westlichen Politiker, die ihre damals höchst unpopulären Einsichten gegen den Massenprotest der Friedensbewegungen in den eigenen Ländern durchgesetzt haben.

Im Rückblick auf den "heißen Herbst" des Jahres 1989 ist aber auch unbestritten, daß die Impulsgeber und Moderatoren der friedlichen Revolution in der DDR mehrheitlich aus jener oppositionellen Bürgerbewegung kamen, die sich Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre als unabhängige Friedensbewegung konstituiert hatte. Ihre entscheidende Politisierung erfuhr die oppositionelle Szene in der DDR in den Begegnungen mit Angehörigen der westdeutschen Friedensbewegung - wenngleich mit Vertretern der sozialismuskritischen Minderheit dieser Bewegung. Keiner der in der ostdeutschen Friedensbewegung Engagierten fühlte sich wohl im "real existierenden" Sozialismus. Auch wenn Vorbehalte gegen wirtschaftliche und soziale Strukturen "des Kapitalismus" vorhanden waren, galten die parlamentarischen Demokratien Westeuropas als erstrebenswert. Und dennoch bestand in den kirchlichen Basisgruppen damals der Konsens, daß die Bewahrung eines politischen Systems nicht über die Bewahrung des Weltfriedens gestellt werden darf.

Zwischen den Befürwortern und Gegnern der Atomrüstung herrschte zu Beginn der achtziger Jahre eine extreme Polarisierung. Aus der Perspektive beider Seiten ging es um absolut existenzielle Fragen, die, zumindest im Westen, entsprechend radikal öffentlich diskutiert wurden. Der Friedensbewegung hat man hier vorgehalten, eine Westverschiebung des sowjetischen Machtbereichs zu riskieren und damit Freiheit und Demokratie zur Disposition zu stellen (was sicher stimmte); den Vertretern der Nachrüstung wurde vorgehalten, einen Atomkrieg zu riskieren und damit die europäische Zivilisation zur Disposition zu stellen (was wohl auch stimmte). "Lieber rot als tot" riefen die einen um Hilfe; "lieber tot als rot" antworteten die anderen und stellten damit ihre Prioritäten klar. Die Nachrüstungsbefürworter sahen sich kurz vor dem Ziel, das kommunistische System wirtschaftlich "totzurüsten" - und da schien ihnen eine von der Angst getriebene Massenbewegung in den Rücken zu fallen. Die Friedensbewegung glaubte in der Nachrüstung eine gefährliche Provokation Moskaus zu erkennen, die dort nur die "Falken" stärken und eine innere und äußere Verhärtung bewirken würde. Während die Friedensbewegung gern den Ökumenischen Rat der Kirchen von 1983 zitierte, der die Atomrüstung als "Verbrechen gegen die Menschheit" bezeichnete, schmähten die indirekt als "Verbrecher" Titulierten ihrerseits die Demonstranten der Friedensbewegung als gewaltbereite Antidemokraten sowjetischer Prägung, die Teilnehmer von Sitzblockaden mitunter sogar als Terroristen.

Natürlich war die Friedensbewegung kein politisch einheitliches Gebilde - weder im Westen noch im Osten. In der westdeutschen Friedensbewegung zeigte eine auf die Verhinderung der Raketenstationierung fixierte Mehrheit wenig Interesse für eine Demokratisierung der osteuropäischen Staaten und betrachtete die deutsche Frage ohnehin als Tabu. Ein wesentlicher Teil der ostdeutschen Friedensbewegung vertrat das Konzept der "Sicherheitspartnerschaft", das zwar Abrüstung versprach, aber letztlich von einer Stabilität und politischen Unveränderbarkeit der DDR ausging.

Dennoch gab es auf beiden Seiten der Friedensbewegung Positionen, die deutlich über die systemstabilisierenden Auffassungen hinausgingen: Sie forderten eine Überwindung der Blockkonfrontation - und verknüpften ausdrücklich eine Lösung der Friedensfrage mit einer Lösung der deutschen bzw. europäischen Frage. Beispiele dafür sind der von Robert Havemann und Rainer Eppelmann initiierte "Berliner Appell" für die unabhängige Friedensbewegung der DDR von 1982 und die Parallelveranstaltungen der Friedensbewegungen aus West und Ost am 29. September 1984 in Fulda und Meiningen (die ich auf der östlichen Seite mit organisiert habe).

Als - nach dem dritten Moskauer Staatsbegräbnis der achtziger Jahre - 1985 Gorbatschow an die Macht gekommen war, kam es im Westen zunächst erst einmal zu einem neuen Streit an der alten Nachrüstungs-Front: War das "neue Denken" nur als Propaganda anzusehen oder sollte man Gorbatschow ernst nehmen und ihn unterstützen? Zur wirklichen Entspannung zwischen den Militärblöcken kam es wohl in dem Moment, als Gorbatschow Positionen der Friedensbewegung aufgriff - und in deren Konsequenz lieber das eigene (bereits im wirtschaftlichen Untergang befindliche) System zur Disposition stellte, als einen Atomkrieg riskierte.

Nun, als von Moskau keine akute Gefahr mehr ausging, aber in der DDR weiter die Breschnew-Doktrin herrschte, war nicht nur die ostdeutsche Opposition, sondern auch die westdeutsche Politik zu einer offeneren Positionierung herausgefordert. Die Aufbruchstimmung wurde schnell gedämpft, als sich zeigte, daß nur wenige der westdeutschen Parteien und Politiker den Kontakt zu den oppositionellen Bewegungen in der DDR suchten, manche ihn sogar definitiv ablehnten. Auch in dieser für die Konstituierung der DDR-weiten Demokratiebewegung bedeutsamen Zeit zwischen 1986 und 88 bestanden deren politische West-Kontakte - von den Besuchen einiger CDU-Abgeordneter in Ost-Berlin abgesehen - hauptsächlich zu Vertretern der Grünen. Ich vermute, daß die Polarisierungen aus dem Jahr 1983 mit dafür verantwortlich gemacht werden müssen, daß es in den Jahren danach nicht zu einer stärkeren Annäherung zwischen den westdeutschen Konservativen und der ostdeutschen Demokratiebewegung gekommen ist.

Eigentlich wußten viele der DDR-Oppositionellen aus den Begegnungen mit Dissidenten der osteuropäischen Länder, daß dort eine Orientierung an "linken" Positionen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre als überlebt galt und das Wort "Sozialismus" nur noch als Umschreibung der bisherigen Sowjetdiktatur zu gebrauchen war. Daß dennoch die Mehrheit der ostdeutschen Demokratiebewegung damals noch nicht zu einer deutlichen Abkehr von - zumindest verbal - prosozialistischen Positionen fand, dürfte auch an den fehlenden Begegnungen mit westdeutschen Konservativen gelegen haben.

Im Herbst 1989, als die ostdeutsche Demokratiebewegung zu einer Massenbewegung anwuchs, die die gewaltlose Befreiung von der SED-Diktatur erreichte und die von Helmut Kohl geführte Bundesregierung mit Entschlossenheit und diplomatischem Geschick die Perspektive der deutschen Einheit eröffnete, geschah das unerwartete: Die sich seit der Nachrüstungsdebatte feindlich gegenüberstehenden Parteien trafen sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu einer außergewöhnlichen Kraftanstrengung - und plötzlich gingen die kühnsten Visionen beider Seiten in Erfüllung. Das Sowjetimperium verschwand von der Bildfläche. Der kalte Krieg war vorbei. Und die Verwirklichung der deutschen Einheit war eine Konsequenz aus beidem!

Obwohl die Nachrüstungs-Polarisierung nun seit zehn Jahren überwunden ist, herrscht dort, wo sich die damaligen Exponenten begegnen (heute haben ja Vertreter beider Seiten ihre politische Heimat in der christlich-demokratischen Grundströmung gefunden) oft noch Sprachlosigkeit, wenn von den Debatten um 1983 die Rede ist. Offene Fragen gibt es da durchaus noch, denen man jetzt vielleicht mit gegenseitigem Respekt und weniger emotional nachgehen könnte: Hätte ohne atomare Nachrüstung die Sowjetunion den Westen überrollen können? War es legitim, das Atomkriegsrisiko so groß werden zu lassen? Wie groß war dieses Risiko eigentlich wirklich? Welche seelischen und moralischen Verwerfungen hat die Politik der atomaren Abschreckung bei der heranwachsenden Generation verursacht? Hat die von vielen als akute Lebensgefahr empfundene atomare Bedrohung zur - partiellen - politischen Blindheit der mehrheitlich von der jüngeren Generation geprägten Friedensbewegung beigetragen?

Die genannten Fragen werden sich nicht in der einfachen Weise beantworten lassen, wer recht hatte und wer nicht, wer auf dem richtigen Weg war und wer auf dem falschen. Schließlich gibt es nicht nur monokausale Zusammenhänge in der Politik. Ich glaube, beide Parteien haben (ob direkt oder indirekt) einen wesentlichen Beitrag zu den Ereignissen von 1989 und 90 geleistet. Indem sie ihre Polarisierung überwanden, erreichten sie ihre Fernziele praktisch über Nacht! Beide Seiten haben Grund zur Dankbarkeit - und Anlaß zum Feiern. Warum soll man nicht auch gemeinsam feiern?

Eigentlich tun wir das ja seit 1990 immer wieder am 3. Oktober. Auch wenn es vielen nicht bewußt ist: Der Tag der deutschen Einheit ist untrennbar verbunden mit der Überwindung der kommunistischen Diktatur und mit der Überwindung des kalten Krieges.
 
 
 

Michael Beleites war in der kirchlichen Friedens- und Umweltbewegung der DDR aktiv und ist Sächsischer Landesbeauftragter für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.