Thomas U. Demel

Einheit in Vielfalt
 
 
Wer sich mit Volkskunst oder Trachten, aber auch mit Dialekten und Mundarten beschäftigt, kann es bestätigen: Kaum faßbar ist die unglaubliche Zahl der Nuancen, schier unendlich die verschiedener Facetten und Ausprägungen, Nicht nur im Alpenraum erkennt man unschwer jedes Tal, oft sogar jeden Ort an einer anderen Variante der Tracht, oder an einem anderen Zungenschlag im oft ähnlichen Dialekt. Mit viel Liebe zum Detail werden gerade in der ländlichen Gegend neuerdings diese Traditionen wieder gepflegt. Sie sind Ausdruck eines gewaltigen kulturellen Reichtums, Ausdruck aber auch einer über viele Jahrhunderte gewachsenen Tradition und eines ausgeprägten Heimatbewußtseins.
 
 

1. Vielfalt als Last oder als Herausforderung?

Kein anderer Kontinent kann auf derart engem Raum mit einer solchen kulturellen Vielfalt aufwarten wie Europa. Während die Vereinigten Staaten von Amerika seit jeher als klassisches Einwanderungsland ein großer Schmelztiegel aller Kulturen und Erdteile waren, haben sich in Europa die kulturellen und regionalen Besonderheiten durchweg behauptet. Nicht das Verschmelzen zu einem Neuen, sondern die gemeinsame kulturelle Basis im Christentum bildet hier das Fundament aller Einigungsversuche. Immer dann, wenn die Völker Europas ihre gemeinsame kulturelle Wurzel erkannt und gepflegt haben, erlebte unser Kontinent eine kulturelle Blüte. In Zeiten, in denen übersteigerter Nationalismus das gestattende Strukturelement war, beraubten sich die Europäer selbst ihrer Stellung in der Welt. Von Karl dem Großen auf den Überresten des Imperium Romanum aufgebaut, bewußt in Anknüpfung an die Staatsphilosophie der Spätantike geschaffen, führte die Reichsidee im Heiligen Römischen Reich die Stämme Europas in einer neue Hochphase. Das Reich in seiner Funktion als übergreifendes Gewölbe über den einzelnen Nationen bot Platz und Raum für die Vielfalt der regionalen Besonderheiten. Erst die Nationalstaaten, die auf einem abgegrenzten Territorium einen Einheitsstaat und ein Einheitsvolk schaffen wollten, was es praktisch nirgends gab, wandten sich gegen diese Verschiedenheit. Ihren übersteigerten Endpunkt fand die Nationalstaatsidee im Rassenwahn des nationalsozialistischen Führerstaates. Im schrecklichen Schlußinferno des zweiten Weltkriegs, in der millionenfachen Flüchtlingstrecks 1945/1946 und in der Teilung Europas endete dieser Irrweg. Die deutsch-französische Aussöhnung, die Gründung der Europäischen Gemeinschaft und der Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa sind hoffnungsvolle Schritte zurück auf den richtigen Weg.

Freilich erscheinen, von außen betrachtet, für den Nichteuropäer die Gemeinsamkeiten zwischen den Völkern und Regionen im Vordergrund zu stehen. Jedoch kann dies nicht darüber hinweg täuschen, daß im Rahmen der Europäischen Einigung mit den kulturellen, den emotionalen und den politisch-staatsrechtlichen Besonderheiten und Eigenheiten aller Völker und Volksgruppen vom Nordkap bis nach Sizilien und von Portugal bis Bulgarien gerechnet werden muß. Eine Einheitslösung der anstehenden Fragen und Probleme schließt sich somit von vornherein aus. Stets sind nach den unterschiedlichen regionalen Gesichtspunkten passende Lösungsansätze zu suchen. Europas Reichtum erscheint so auch zugleich als seines größte Last. Sind es jedoch, wie immer wieder behauptet wird, wirklich unüberbrückbare Gegensätze, die da herrschen? Einige Zahlen mögen die Ausgangslage verdeutlichen:

Die - ohne Rußland - gut 500 Millionen Europäer gliedern sich derzeit in 35 Staaten, insgesamt werden über 70 Sprachen gesprochen. Dabei überschneiden sich die Siedlungsgebiete der einzelnen Volksgruppen oft beträchtlich, gerade durch die Ostkolonisation im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit sind deutsche Volksgruppen über ganz Mittel- und Osteuropa verteilt. Das Heilige Römische Reich konnte mit seiner supranationalen Reichsidee ein übernationales Gewölbe über Europa bilden. Die Nationalstaatsidee vermochte die Probleme auch nicht nur annähernd zu lösen, die Nationalitätenfrage wurde im Gegenteil deutlich verschärft. Sie wurde zum Sprengsatz, der sich in Kriegen, in Vertreibung und Völkermord, besonderer ausgeprägt im 20. Jahrhundert, entlud. Mit jedem neuen Nationalstaat wurde eine Vielzahl internationaler Minderheiten geschaffen. Mit wenigen Ausnahmen bilden größere oder kleinere Teile eines Volkes oder aber ganze kleine Völker, die selbst keinen eigenen Staat haben, in den angrenzenden Nachbarstaaten nationale Minderheiten. Andererseits aber hat jeder Nationalstaat, lediglich mit der Ausnahme Portugals, selbst fremdnationale Volksgruppen.

Dies führt uns zur aktuellen Situation in Europa. Nur ungefähr die Hälfte der Völker Europas konnten einen eigenen Nationalstaat bilden. Die andere Hälfte, überwiegend diejenigen mit unter vier Millionen, besitzen lediglich den Status nationaler Minderheiten. Rund 7/8 der europäischen Bevölkerung bilden 32 nationale Mehrheiten, 1/8 gehört den ungefähr 200 Volksgruppen an, die in 33 Staaten als nationale Minderheiten leben. Aber auch sämtliche Völker, die einen eigenen Nationalstaat besitzen, finden sich in anderen Staaten unzählige Male als Minderheiten wieder. Im Durchschnitt verfügt ein europäischer Staat über jeweils mindestens fünf Sprachen und Kulturen, außer in Belgien und in der Schweiz ist jedoch nur eine Sprache und Kultur Nationalsprache und Nationalkultur. Die anderen sind einem permanenten Assimilierungsdruck ausgesetzt.

Wie aber läßt sich diese Situation zu einem fruchtbaren Miteinander gestalten? Mit den herkömmlichen staatsrechtlichen Kategorien, insbesondere aber durch die bloße Garantie von Demokratie und Menschenrechten, läßt sich die Volksgruppenproblematik nicht lösen. Die Mehrheitsentscheidung als Prinzip der Demokratie fährt zwangsläufig zur Diskriminierung einer Minderheit, die zahlenmäßig nie mit der Mehrheit um die Regierungsbildung und um die Machtbeteiligung konkurrieren kann. Ferner schafft die Garantie der Menschenrechte in der Europäischen Menschenrechtskonvention lediglich einen Individualanspruch für jede Person, nicht aber einen einklagbaren Rechtsanspruch für die Volksgruppe als Personenverband. Als einziger Ausweg aus diesem Dilemma erscheint ein positiv formulierter Volksgruppenschutz, der in der Staatsverfassung, also im Verfassungsrang verankert, durch den demokratischen Rechtsstaat qualifiziert garantiert wird. Nur dieser ermöglicht eine befriedigende Lösung der Nationalitätenfrage, ohne dabei die bestehenden Staatsgrenzen nachhaltig zu verändern. Sezession und Zerfall von Staaten sowie größere Destabilisierung können auf diesem Wege verhindert werden.
 
 

2. Personalprinzip statt Territorialprinzip

Karl Renner, der spätere österreichische Bundespräsident, ein Sozialdemokrat aus Mähren, das im ausklingenden 19. Jahrhundert zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte, befaßte sich bereits als junger Abgeordneter zum Mährischen Landtag mit dieser Problematik. Er entwickelte die Idee, Souveränität nicht mehr nur auf ein Territorium zu beziehen, sondern daneben auch einen Personalverband, eben ein Volk oder eine Volksgruppe zum Rechtsträger zu machen. Indem also Anknüpfungspunkt für die Rechtsausübung nicht mehr das Gebiet war, in dem verschiedene Völker siedelten, sondern die Volksgruppe als Personalverband, wurde es ohne weiteres möglich, mehreren verschiedenen Nationalitäten in ein und demselben Staat oder Staatsteil unabhängig voneinander die Ausübung derselben zu gestatten. Renner ging sogar soweit, als Rechtsträger das gesamte jeweilige Volk in der Monarchie zu sehen, unabhängig ob es in der österreichischen oder aber in der ungarischen Reichshälfte siedelte. Ausgangspunkt für Renners Überlegungen, die zum großen Teil im sogenannten Mährischen Ausgleich von 1905 verwirklicht wurden, war ein sich zuspitzender Nationalismus in Mähren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
 
 

3. Der Mährische Ausgleich als erste Kodifikation eines Volksgruppenrechtes

Mähren war von jeher in seinem Charakter als Durchgangsland kein Land der krassen Gegensätze. Stets hatten verschiedene Völker und Volksgruppen hier zusammen gelebt. Im Gegensatz zu Böhmen kam es in Mähren, auch begünstigt durch ein viel enger vermischtes Siedlungsgebiet, nie zu dramatischen Zuspitzungen im deutsch-tschechischen Verhältnis. Jedoch führte die Ausbreitung des nationalen und liberalen Gedankenguts zu einer stärkeren Besinnung auf die eigene Volkskultur. Mit dem Wiedererwachen der slawischen Völker kam es zum nationalen Kampf um die eigene Identität. Die gemeinsame Grundlage der Abwehr der ständigen Bedrohung Europas durch das Osmanische Reich hatte vorher diesen Vielvölkerstaat geeint und zusammengehalten. Der Kampf der Nationalitäten begann nun eine entscheidende Rolle bei der Zerstörung der Donaumonarchie zu spielen. Die 1867 im ungarischen Ausgleich gefundene Lösung des Konflikts mit dem ungarischen Volk erweckte zudem den Neid und den Haß der Slawen gegen den vermeintlichen "Völkerkerker" der Habsburger Monarchie. Der Panslawismus beflügelte und verschärfte den Kampf gegen Deutsche und Ungarn.

Mähren bildete seit jeher eine Verkehrsdrehscheibe in Europa. Der Weg von Böhmen in den ungarischen Reichsteil führte zwangsläufig durch Mähren. Bereits im 8. und 9. Jahrhundert trafen hier West- und Ostkirche aufeinander. Auch in den folgenden Jahrhunderten war Mähren immer ein Land des Ausgleichs und nicht der Gegensätze. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewannen die Tschechen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Emanzipation - bedingt durch ein vom Steueraufkommen anhängiges Zensuswahlrecht - immer größeren politischen Einfluß. Unter dem Druck der drohenden Majorisierung der deutschen Minderheit, die bis dato die absolute Mehrheit im mährischen Landtag gestellt hatte, begann ein zähes Ringen um eine nationale Autonomie der deutschen Volksgruppe. Der Ausgleichskompromiß enthielt schließlich als Kernregelung neben einer Erhöhung der Abgeordnetenzahl im Mährischen Landtag und einer Beibehaltung des Kurienwahlrechts mit Wahlzensus die Schaffung gesonderter nationaler Wahlbezirke innerhalb der Kurien. Die deutsche Bevölkerung wählte jeweils ihren deutschen, die tschechische ihren tschechischen Abgeordneten im jeweiligen Wahlkreis. Grundlage war, daß jeweils ein Mandatar ungefähr gleich viele Wählerstimmen repräsentiert. Der Kampf um Mandate zwischen den beiden Volksstämmen war damit beendet. Zur Verfassungsänderung sowie zur Änderung von Gesetzen über das Schul-, Bildungs- und Kulturwesen war eine 2/3-Mehrheit erforderlich, die nur zusammen von beiden Nationalitäten bewerkstelligt werden konnte. Die Schulgesetze bildeten mit ihrer nationalen Trennung der Schulaufsichtsbehörden neben der Regelung des gleichberechtigten Gebrauchs der beiden Sprachen einen wesentlichen Bestandteil des Mährischen Ausgleichs. Mit der Annahme der neuen Landesverfassung und der Landeswahlordnung wurde eine Gesetzgebung geschaffen, die ihrer damaligen Zeit weit voraus war. Nationalistische Konfrontation wurde zu Gunsten einer Kooperation der einzelnen Völker überwunden. Die große Leistung der damaligen Zeit war es, daß beide Volksgruppen trotz Konflikten und zum Teil auch gewalttätiger Auseinandersetzungen jeweils nicht versuchten, eine Vormachtstellung über die andere Nationalität zu gewinnen, sondern daß gemeinsam eine Lösung des Konflikts zum Wohle des Landes gesucht wurde.

Die in den Ausgleichsgesetzen erstmals formulierten Ideen waren so revolutionär, aber auch so visionär, daß sie in mehreren anderen Ausgleichen in der Monarchie übernommen wurden. Ähnliche Ausgleiche zwischen den Volksgruppen fanden u. a. in der Bukowina und in Bosnien statt. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges verhinderte schließlich ein Durchgreifen dieser Idee auf die ganze Donaumonarchie. Im Gefolge des "zweiten Dreißigjährigen Krieges" - wie der feanzösische Historiker Joseph Rovan - die Zeit zwischen 1914 und 1945 bezeichnete, gingen mit dem alten Europa auch die Ideen des Mährischen Ausgleichs unter. Den Rückfall in Nationalismus und Völkermord konnten sie nicht verhindern.

Ihre Vision wurde jedoch nach dem zweiten Weltkrieg mehrfach wieder aufgegriffen. Als Grundlage der Südtirolautonomie, aber auch der neuen Verfassung Namibias lebt sie heute fort. In mehreren Nationalitätengesetzen, die u.a. im heutigen Ungarn, in Slowenien, in Kroatien und in Rumänien den dortigen Volksgruppen umfassende Rechte einräumen, erfährt der Mährische Ausgleich eine späte Rechtfertigung. Sie bildet zusammen mit den modernen Regelungen den Ausgangspunkt für die Formulierung einem Volksgruppenrechts auf Europäischer Ebene, das als Volksgruppencharta Teil einer Europäischen Verfassung werden sollte.
 
 

4. Autonomierechte und ihre Ausprägung

Einige Grundzüge eines modernen Volksgruppenrechts seien jedoch nochmals genauer dargestellt. Den entscheidenden Ansatz stellt die Gewährung von Autonomierechten an die Volksgruppen dar. Diese gewährleisten unter Wahrung der territorialen Integrität der Staaten ein Höchstmaß an innerer Selbstbeteiligung sowie zugleich eine entsprechende Mindestkompetenz der nationalen Mehrheitsbevölkerung. Dadurch werden die Angehörigen einer Volksgruppe vor der Majorisierung durch Mehrheitsentscheidungen geschützt, gleichzeitig erweist sich die Autonomie als bester Schutz vor unkontrollierter Sezession. Entsprechend der jeweiligen staatlichen Ausgangslage lassen sich drei Formen der Autonomie bilden und unterscheiden:

Falls eine Volksgruppe in ihrem Siedlungsgebiet die Mehrheit der Bevölkerung stellt, bietet sich eine Territorialautonomie für dieses Gebiet an. Diese kann im Idealfall alle Kompetenzen zur Regelung der innerstaatlichen Angelegenheiten beinhalten. Lediglich in den Angelegenheiten des Gesamtstaates ist dieser dann noch regelungsbefugt. Im Übrigen organisiert und verwaltet sich die Region weitestgehend selbständig. Durch die gemeinsame Außenvertretung, aber auch durch die gesamtstaatliche Wirtschafts- und Finanzpolitik, und durch eine einheitliche Rechtspflege bestimmt der Staat nach wie vor die äußeren Rahmenbedingungen. Ist die Volksgruppe auch in ihrem Siedlungsgebiet in der Minderheit, so ermöglicht eine Kulturautonomie die eigenständige Regelung aller kulturellen, die Volksgruppe betreffenden Angelegenheiten. Die Lokalautonomie schließlich sieht für alle in örtlicher Mehrheit, aber über das Land verstreut lebenden nationalen Minderheiten die selbständige Regelung ihrer ureigensten örtlichen Bedürfnisse vor. Während Territorial- und Lokalautonomie auch am Siedlungsgebiet anknüpfen, bezieht sich die Kulturautonomie ganz auf den Personenverband.

Diese drei Autonomiemodelle sind auf sämtliche Fälle der Siedlung nationaler Minder-heiten in Europa anwendbar. Natürlich ist ihre Ausgestaltung jeweils nach den örtlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen auszurichten. Sie kann deshalb einmal weiter gefaßt sein, ein andermal wieder mehr auf den Staat ausgerichtet sein. Entscheidend ist allemal, daß die Autonomierechte im werden, und ihre Umsetzung nicht mangels unzureichender Finanzierung wieder gekappt werden kann.
 
 

5. Die Südtirolautonomie

Das Paradebeispiel für eine Territorialautonomie ist das heutige Südtirol. Bis zu den Pariser Vorortverträgen Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, zum ganz überwiegenden Teil von Südtirolern den deutscher Nationalität bewohnt, wurde das Gebiet zwischen Brenner und Salurn dein italienischen Staat zugeschlagen. Von den Faschisten wurde es einer brutalen Italienisierung unterzogen. Das Verbot der deutschen Sprache, der eigenständigen Kulturpflege und des muttersprachlichen Unterrichts, sowie eine planmäßige Ansiedlung von italienischer Bevölkerung sollte zu einer totalen Ausrottung der bisherigen Landeskultur führen. Bis ins kleinste Detail, bis hin zu den deutschen Familiennamen auf Grabsteinen wurde diese Assimilierung durchgeführt. Jedoch war das Gegenteil der Fall. In einem beispiellosen Behauptungswillen pflegten die Südtiroler ihre Kultur und ihre Sprache im Untergrund weiter. Nach mißglückter Ansiedlung ins deutsche Reich durch die Nationalsozialisten erkämpfte sich die Bevölkerung Südtirols in Nachkriegsitalien ihre heutige starke Stellung. In zwei sogenannten Südtirolpaketen wurde ein Autonomiestatut formuliert, dessen Grundidee aus dem Mährischen Ausgleich übernommen ist, die jedoch an die besonderen Gegebenheiten des Landes aufs engste angepaßt wurde. Nicht nur die komplette Gleichwertigkeit aller drei Landessprachen Deutsch, Italienisch und Ladinisch sind darin festgeschrieben, eine eigenständige Wirtschaftsverwaltung, die eigenständige Regelung der Kulturpflege, des Naturschutzes im Alpenraum und der Schulverwaltung, um nur einige Bereiche zu nennen, sind darin beispielgebend umgesetzt. Darüber hinaus sieht Südtirol heute für sich die Perspektive, als Euroregion Tirol im zusammenwachsenden Europa grenzüberschreitend viel stärker mit Nordtirol zusammenarbeiten zu können, gleichwohl es heute fester und stabiler Bestandteil des italienischen Staates ist.
 
 

6. Regionalismus als Strukturprinzip Europas

Eine ideale Ergänzung findet ein europaweit zu schaffendes Volksgruppenrecht in einem gestärkten Regionalbewußtsein innerhalb der europäischen Union. Dabei ist zwar grundsätzlich zu beachten, daß es keinen einheitlichen Regionenbegriff gibt, und wahrscheinlich aufgrund der unterschiedlichen gewachsenen Strukturen wohl auch nicht geben wird. Jedoch ist in allen Staaten, parallel zur Verlagerung von Kompetenzen hin zur Europäischen Union, eine zunehmende Stärkung der Regionen zu beobachten. Die Einrichtung des Rates der Regionen als beratendes Organ der Europäischen Union zeugt von diesem gestärkten Selbstbewußtsein der regionalen Gebietskörperschaften. Über dieses Sprachrohr nimmt ihr Einfluß bis hin zur Gesetzgebung stetig zu. Regionale Verankerung gewinnt gerade in der modernen Welt, die durch eine rasant fortschreitende Globalisierung gekennzeichnet ist, immer mehr an Bedeutung. Hinzu kommt die gewachsene Einsicht, daß Probleme am besten dort gelöst werden, wo sie entstehen, und wo die größtmögliche Lösungskompetenz vorhanden ist. Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag von Maastricht ist dabei sicher als Durchbruch zu werten.

Eine Schlüsselrolle kommt dieser regionalen Bindung bei der Identititätsfindung des Einzelnen zu. In der Region beheimatet, in Europa zu Hause wird wohl das Schlagwort der Zukunft lauten. Nur wer wirklich in seiner Heimat verwurzelt ist, wird sich auch als Europäer fühlen können, ohne fürchten zu müssen seine Identität zu verlieren. Diese gestufte Identität ist wiederum Voraussetzung für das, was gerne als Europäischer Patriotismus bezeichnet wird, und was für ein Gelingen der Europäischen Einigung unabdingbar ist. Europa muß in den Herzen der Menschen wachsen.

Die Möglichkeit der grenzüberschreitenden Kooperation in Euroregionen wird künftig noch viel stärker an Gewicht gewinnen. Durch die regionale Lösung von Problemen werden bisher trennende Grenzen ihre teilende Wirkung verlieren. Für ein wirkliches Zusammenwachsen der Völker ist dieser Effekt gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Die regionale Bindung ergänzt somit die Garantie von Autonomierechten im Rahmen der Europäischen Einigung in ganz entscheidender Weise.
 
 

7. Herausforderung für die Zukunft?

Als 1989 der Zusammenbruch der kommunistischen Unrechtsregime in Mittel- und Osteuropa begann, brach bei nicht wenigen die Euphorie aus, nun sei der ewige Friede angebrochen. Der amerikanische Historiker Fukuyama veröffentlichte ein Buch unter dem Titel "End of History" - das Ende der Geschichte. Das Gegenteil ist passiert. Das Gleichgewicht des Schreckens ist einer unglaublichen

Instabilität gesichert, Kriege waren selbst im Herzen Europas wieder führbar geworden. Wie vor Schrecken starr beobachteten die Westeuropäer den blutigen Zerfall Jugoslawiens. Von der Fessel des Kommunismus befreit, ließ sich dieses Kunstgebilde, nachdem die letzten Autonomierechte beseitigt worden waren, nicht mehr halten. Der Krieg in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und im Kosovo sollten ein warnendes Beispiel dafür sein, wohin es führt, wenn das Volksgruppenproblem unterschätzt und unterdrückt wird. Darüber hinaus sieht sich Europa heute einem wiedererstarkten Rußland gegenüber, das als einstige militärische Großmacht auch heute noch einen gewaltigen Machtfaktor darstellt. Eine in mehreren Papieren formulierte aggressive Militär- und Außenpolitik sollten Europa aufhorchen lassen. Die Gleichschaltung Georgiens, die Union mit Weißrußland, aber auch und gerade zwei blutige Kolonialkriege im Kaukasus und ein unglaublicher politischer Druck auf die baltischen Staaten sprechen eine eigene Sprache. Betrachtet man darüber hinaus die Verdoppelung der russischen Militärausgaben binnen Jahresfrist und die ehrgeizigen Militärprojekte mobiler Raketenabschußrampen oder eines hochwertigen Kampfflugzeugs, wird deutlich, daß man Rußland ernster nehmen sollte, als dies bisher geschehen ist. Der alte Grundsatz, daß die Grenze der Freiheit so weit wie möglich nach Osten verschoben werden sollte, hat neue Bedeutung erlangt. Rußland darf nicht ausgegrenzt und isoliert, jedoch beileibe nicht unterschätzt werden.

Um in Europa Frieden und Freiheit zu sichern ist es deshalb unerläßlich, die Europäische Einheit durch eine Osterweiterung der Europäischen Union zu vollenden. Nur so wird es gelingen, die errungene Freiheit für alle Europäer auf Dauer zu sichern. Um diesem Europa auf Dauer die Funktion zu geben, die ihm von Beginn an zugedacht war, die Aufgabe der Friedensmacht und des Leuchtturms der Freiheit in der Welt, ist es unerläßlich, es auf einem stabilen und dauerhaften Fundament zu bauen. Dieses Fundament kann nur das Recht sein. Das Recht, formuliert in einer Rechtsordnung, deren Seele das Christentum ist, in der jeder Einzelne als Person seine Würde und seine Rechte als Ebenbild des Schöpfers besitzt. Eine Rechtsordnung, die in Verantwortung vor Gott und den Menschen formuliert ist, und die in diesem Anspruch bestellen kann. Eine Rechtsordnung, die aus dieser Verantwortung auch jeder Volksgruppe und jedem Volk seine Existenz gewährleisten kann. Eine Rechtsordnung, die Einheit in Vielfalt als Grundgesetz Paneuropas garantiert. Dann wird dieses Europa, dessen Ehrenbürger Helmut Kohl ist, Bestand haben.
 
 
 
 

Thomas U. Demel ist Jurist in Krumbach und Bundesvorsitzender der Paneuropa-Jugend Deutschland.