Karsten Knolle

Mein Weg in die Politik -

Vom Bonner Journalisten ins Europäische Parlament

 

Am 04. April 1990, also vor zehn Jahren, berichtete ich als damals in Bonn tätiger Journalist über die Geburtstagsfeier von Dr. Helmut Kohl. Ich ahnte damals nicht, dass ich einmal im künftigen Bundesland Sachsen-Anhalt acht Jahre lang für die CDU im Landtag in Magdeburg sitzen wurde und dass mich die Bürgerinnen und Bürger dieses Bundeslandes 1999 ins Europäische Parlament wählen würden. Mein beruflicher Weg als politischer Korrespondent in Bonn schien vorgegeben.

Vom "Wiedervereinigungsfieber" war ich allerdings vor zehn Jahren schon angesteckt. Ich gehörte zu der großen Gruppe von Journalisten, die im Dezember 1989 mit nach Dresden fuhren, um über die politischen Gespräche zwischen dem damaligen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow (SED-PDS) und dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Helmut Kohl zu berichten. Auf der überdurchschnittlich gut besuchten Pressekonferenz fragte ich Helmut Kohl in Dresden, wann denn die Wiedervereinigung Deutschlands zu erwarten sei. Kohl antwortete damals sinngemäß, "nun lasst uns doch erst einmal das Zehn-Punkte-Programm umsetzen". Zur Erläuterung: das Zehn-Punkte-Programm, das Kohl im Herbst 1990 im Bundestag in Bonn vorstellte, sah nach der Erstürmung der Berliner Mauer eine Art Vertragsgemeinschaft zwischen den beiden deutschen Staaten mit dem Ziel einer irgendwann stattfindenden Wiedervereinigung vor. Nach dieser bedeutsamen Pressekonferenz ging Kohl zur Ruine der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Frauenkirche und hielt dort seine berühmte Rede, in der er an das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen und an den Patriotismus appellierte. Ich sah bei dieser Kundgebung die vielen Deutschlandfahnen und die zahlreichen selbstentworfenen Transparente, auf denen Kohl immer wieder positiv dargestellt wurde. Zwei dieser Transparente habe ich damals von Kundgebungsteilnehmem für wenige DM erworben.

In Dresden überschlugen sich die politischen Ereignisse. Kurz vor Weihnachten war ich in Berlin mit dabei, als Helmut Kohl und Hans Modrow den Fußgängerübergang am Brandenburger Tor eröffneten. In meinem Reisepass wurde damals von der Volkspolizei der Stempel "Fußgängerübergang Brandenburger Tor" hineingestempelt. Diesen Reisepass habe ich als historisches Dokument natürlich aufgehoben. Wesentlich leichter war die Einreise in die DDR, als ich Helmut Kohl bei seiner berühmten Wahlkampfrede in Erfurt begleitete. Wir westdeutschen Journalisten waren entsetzt über den Zustand der Innenstadt von Erfurt. In den Zeitungen wurde intensiv über den Wahlkampf für das zu wählende erste demokratische Parlament in der DDR berichtet. Von einigen Zeitungen wurde ich gebeten, über den Wahlkampf in meiner ehemaligen Heimatregion Quedlinburg zu berichten.

Ich hatte das große Glück, dort bei entfernten Verwandten unterzukommen, die auch über ein Telefon verfügten, was damals in der DDR recht selten war. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass ich Stunden brauchte, um nach Bonn durchzukommen. Die Tonqualität war miserabel, und die Leitungen brachen immer wieder zusammen. Während meiner Wahlkampfbeobachtung Mitte Februar 1990 war mir klar, dass die CDU bei den ersten freien Wahlen in der DDR gewinnen würde. Die CDU-Veranstaltungen waren hervorragend besucht, und die Infostände auf den Plätzen waren von Menschentrauben umlagert. Dagegen waren die SPD-Veranstaltungen und deren Infostände nur schwach besucht. Ich folgerte daraus, dass die CDU etwa einen Monat später am 18. März die Wahl gewinnen würde. Wegen dieser Prognose wurde ich von Bonner Journalistenkollegen nur müde belächelt. In Bonn ging man davon aus, dass die SPD die Wahlen haushoch gewinnen würde. Das Wahlergebnis am 18. März 1990 bestätigte meine Prognosen.

Auch zu dieser Zeit ahnte ich nicht, dass ich jemals politischer Seiteneinsteiger werden sollte. Ich wollte in Bonn als Journalist bleiben. Im Mai 1990 war ich erneut in Quedlinburg, um über die nach der Volkskammerwahl erfolgte "politische Wende" zu berichten. Dort war mittlerweile bekannt geworden, dass ich Mitglied der CDU in Bonn bin, und ich wurde gebeten, Mitglied in der gewendeten Ost-CDU zu werden. Diesem Ansinnen kam ich nach und wurde Mitglied der CDU in der DDR. Dieser Schritt fiel mir nicht leicht, war die Ost-CDU durch ihre jahrelange SED-Hörigkeit doch Welten von der West-CDU entfernt. Wenn 1989 ein Kreisfunktionär der Ost-CDU aus familiären Gründen nach Bonn gereist wäre, hätte dieser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemals einen Besuch beim CDU-Klassenfeind West in Bonn abgestattet. Wenn diese Visite in der damaligen DDR bekannt geworden wäre, hatte der Ost-CDU-Kreisfunktionär nie wieder eine Besuchsreise in den Westen genehmigt bekommen. Andererseits hätte ich 1989 einen derartigen Ostbesuch, wenn er denn in der CDU-Geschäftsstelle in Bonn stattgefunden hätte, hochkantig hinausgeworfen. Das waren die Gegensätze 1989/1990. Und ich wurde Mitglied genau dieser Ost-CDU - allerdings im Mai 1990.

Im Juli 1990 absolvierte ich als Oberstleutnant der Reserve bei meinen Fallschirmjägern in Altenstadt bei Schongau als Presseoffizier eine Reserveübung. Während dieser Übung wurde bekannt, dass vier Fallschirmjäger-Offiziere der NVA nach Altenstadt kommen würden. Dieser Besuch sollte der vorsichtigen Annäherung zwischen der NVA und der Bundeswehr dienen. Ich, mit meinen Osterfahrungen, wurde als Betreuer dieser NVA-Offiziere eingesetzt. Die Offiziere kamen mit dem DDR-Luxuswagen Wartburg nach Altenstadt, was schon sehr auffällig war. Wir empfingen sie im Offiziersheim der Franz-Josef-Strauß-Kaserne. Für die vier NVA-Offiziere war die Atmosphäre in Altenstadt völlig fremd und absolut ungewöhnlich. Sie wussten nicht, wie sie sich bewegen sollten. Der lockere Umgangston bei uns Fallschirmjägern hatte sie verunsichert. Ich empfahl dem Kommandeur der Fallschirmspringerschule, mit diesen Offizieren sofort zwei Fallschirmsprünge zu machen. Damit wurde ihnen ein so genanntes Fallschirmsprungerlebnis vermittelt. Wir hatten offensichtlich in Schwarze getroffen. Nach den gemeinsamen Fallschirmsprüngen war die Atmosphäre gelöst und nach vier Tagen Aufenthalt fuhren die NVA-Offiziere mit ganz neuen Eindrücken zurück in die DDR. Der militaristische Klassenfeind - die Bundeswehr - war doch offensichtlich nicht so schlimm, wie dies den NVA-Offizieren über Jahrzehnte eingetrichtert worden war.

Zwischenzeitlich bekam ich aus Quedlinburg eine Einladung zu einer CDU-Mitgliederversammlung im August 1990, auf der ich offiziell in die CDU aufgenommen werden sollte - und das in dem Kreis Quedlinburg, den ich 1955 als Jugendlicher als politischen Gründen verlassen musste. Bei der Mitgliederversammlung wurden die Kandidaten für die anstehenden ersten Landtagswahlen des wieder neu zu gründenden Landes Sachsen-Anhalt aufgestellt. Mich überraschte es, als ich um eine Kandidatur gebeten wurde. Auf der Mitgliederversammlung wurde ich schließlich auch als Direktkandidat nominiert. Ich wusste damals nicht, auf was ich mich eingelassen hatte. Je näher der Wahltermin heranrückte, umso mehr nahm ich innerlich Abschied von der Kandidatur, zumal ich meine Arbeit als Journalist liebte und überhaupt nicht daran dachte, diesen Job aufzugeben. Mitte September 1990 wurde ich von der CDU gedrängt, nun endlich Wahlkampf für die am 14. Oktober anstehenden Landtagswahl zu machen. Von einem Fotografen in Bonn ließ ich mir zahlreiche Fotos anfertigen und in einer Kölner Druckerei wurden die Wahlplakate gedruckt. Mit diesem "Werbematerial" fuhr ich zum Wahlkampf nach Quedlinburg. Durch meinen dynamischen Wahlkampf und als "Wessi" fiel ich natürlich auf. Die damals noch sozialistisch geprägten Lokalredaktionen der "Freiheit" - jetzt Mitteldeutsche Zeitung - waren erstaunt, wie unkompliziert ich auftrat. Eine Selbstdarstellung oder Diskussionskultur bzw. Provokation, wie wir sie im Westen kannten, war völlig unterentwickelt.

Ich hatte mein Hauptquartier in der CDU-Kreisgeschäftsstelle in Quedlinburg. Dies waren zwei insgesamt 30 qm große Räume, die durch einen einfachen Kohleofen beheizt wurden. Die so genannte Toilette, die von allen Hausbewohnern genutzt wurde, befand sich im Treppenhaus. So war der Zustand im Spätseptember 1990. Als am Wahlabend die ersten Ergebnisse bekannt wurden, stand fest, dass ich als Direktkandidat gewählt worden war. Ich wollte neben meinem politischen Mandat aber meine Arbeit als Journalist in Bonn nicht aufgeben. Dies war auch wegen der niedrigen Diäten dringend erforderlich. Ich brauchte mindestens mein Journalistengehalt, um überhaupt zurechtzukommen. Folglich fuhr ich die ersten Wochen frühmorgens nach Bonn, arbeitete dort und fuhr noch am selben Tag wieder nach Quedlinburg zurück. Das waren täglich tausend Kilometer. Der zunehmende Arbeitsaufwand als Landtagsabgeordneter sorgte aber dafür, dass ich meine Bonnfahrten reduzierte und Ende 1990 fast ganz einstellte. Ich war von jetzt auf gleich auf die geringen Ostdiäten angewiesen. Für die Ostabgeordneten waren die Diäten allerdings wie ein Volltreffer im Lotto.

Im Landtag von Sachsen-Anhalt hatte ich mir schnell einen Namen gemacht. Ich lehnte jegliche Diskussion mit den SED-Nachfolgern ab. Gern zitierte ich dabei den ersten SPD-Bundesvorsitzenden Kurt Schuhmacher, der die Kommunisten als "rotlackierte Faschisten" bezeichnete. Für mich war es überraschend, wie schnell die Landtagsabgeordneten politisch Fuß fassten. 1994 kandidierte ich erneut als Direktkandidat und wurde wieder gewählt. Anders dagegen sah das Wahlergebnis 1998 aus. Vier Wochen vor unserer Landtagswahl fanden in Niedersachsen Wahlen statt, bei denen es Gerhard Schröder nur um die Kanzlerkandidatur ging. Der damalige Slogan "Kohl muss weg" hatte auch auf Sachsen-Anhalt übergegriffen. Die CDU erlebte einen tiefen Einbruch, und das 1994 von Reinhard Höppner, SPD, geschmiedete "Magdeburger Modell" war gestärkt aus den Landtagswahlen hervorgegangen. Zur Erklärung: Das "Magdeburger Modell" besteht aus einer von der PDS tolerierten SPD-Minderheitsregierung. Dieses Modell hat das Land Sachsen-Anhalt in die Pleite geführt und wirkt sich noch heute negativ auf die Entwicklung dieses Bundeslandes aus. Ich war nicht mehr im Landtag und verordnete mir selbst 14 Tage "politische Trauer". Ich sah nun eine Chance, für das Europäische Parlament kandidieren zu können. Die verlorene Bundestagswahl 1998 ließ meine Chancen, ins Europäische Parlament gewählt zu werden, auf Null sinken. Dank des CDU-nahen politischen heißen Sommers 1999 wurde schließlich mein größter Wunsch erfüllt. Ich wurde Mitglied des Europäischen Parlaments. Ich habe damit einen politischen Quantensprung gemacht.

Wie stehe ich zu Helmut Kohl? Ich gehörte nicht zu denen, die im Bundeskanzleramt ein- und ausgingen. Ich gehöre auch nicht zu denen, die von Helmut Kohl irgendwelche Hilfen usw. erhofften, und als CDU-Kreisvorsitzender gab es zwischen Helmut Kohl und mir auch keinen heißen Telefonkontakt. Meinen politischen Weg habe ich selbständig gestaltet. Ich musste Kompromisse mit meinem CDU-Landesverband, dem CDU-Kreisverband und der CDU-Landtagsfraktion eingehen, um politische Ziele zu erreichen. Selbstverständlich habe ich mich aber gefreut, dass der Bundeskanzler dreimal zu Besuchen in Quedlinburg weilte. Sein erster Besuch fand im Rahmen einer Bundestagswahlkampf-Kundgebung 1990 in Magdeburg statt. Mit dem Hubschrauber flog Kohl bei herrlichem Herbstwetter über den Harz und war offensichtlich von Quedlinburg so begeistert, dass er dort eine Zwischenlandung machte. Der Historiker Helmut Kohl wusste offensichtlich, dass in Quedlinburg vor rund 1000 Jahren die Wiege der deutschen Geschichte stand. Unter Heinrich I. und Otto dem Großen war Quedlinburg damals für die Dauer von 150 Jahren Reichsmittelpunkt - heute würde man sagen Reichshauptstadt. Von Quedlinburg aus wurde damals schon europäische Politik gestaltet. Nach der Wende wurde die in ihrer Art einzigartige Fachwerkstadt Weltkulturerbe der UNESCO. Kohl besuchte während des Landtagswahlkampfes 1994 erneut die Stadt; sein letzter Besuch war vor der Landtagswahl 1998, wo er auf dem überfüllten Marktplatz eine die Bürgerinnen und Bürger faszinierende Rede hielt.

Für mich selber ist Helmut Kohl größer als Bismarck, der das Deutsche Reich mit Waffengewalt einte. Unter Kohls politischer Regie haben wir erstmals in der deutschen Geschichte keine Feinde oder Gegner rund um Deutschland. Dank seiner Politik haben wir nur Freunde um uns herum. Sicherlich haben an der Wiedervereinigung auch andere Politiker maßgeblichen Einflugs gehabt. Als deutscher Bundeskanzler hat er aber im richtigen Augenblick richtig gehandelt. Den Titel "Kanzler der Deutschen Einheit" wird ihm niemand nehmen können, und damit steht er schon jetzt in den Geschichtsbüchern. Helmut Kohl ist aber auch der größte deutsche Europapolitiker. Er war die Lokomotive im Europäischen Einigungsprozess. Ich freue mich, dies auch immer wieder im Europäischen Parlament feststellen zu können. Über die schicksalhaften Ereignisse der vergangenen Monate möchte ich mich hier nicht auslassen. Damit muss sich Helmut Kohl in erster Linie selbst auseinandersetzen. Ich selber habe politisch von Helmut Kohl profitiert. Durch seine Wahlsiege und seine Ausstrahlung hat auch die CDU in Sachsen-Anhalt "profitiert". Der Dampfer CDU ist durch die Ereignisse der vergangenen Monate stark ins Schlingern geraten. Der Dampfer hat aber nicht - wie die Titanic - einen Eisberg gerammt und ist nicht gesunken. Der dringende Erneuerungsprozess in der Spitze der CDU ist durch die Ereignisse extrem beschleunigt worden, was der CDU langfristig sicherlich als Plus angerechnet wird. Die CDU befindet sich in einer Klimazone, die unserer Witterung entsprechend ist - sie befindet sich im politischen Frühling. Den anderen Parteien dürfte noch ein politischer Herbst bzw. Winter bevorstehen.

Ich gratuliere auf diesem Wege Helmut Kohl zu seinem siebzigsten Geburtstag und wünsche ihm alles Gute und Gottes Segen. Frau Hannelore Kohl, die Anfang der achtziger Jahre das Kuratorium ZNS für schädelhirnverletzte Verkehrsopfer gründete und deren segensreiche Arbeit ich als Journalist begleitete, sei an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön für ihr Engagement für Behinderte gesagt. Möge das Ehepaar noch viele Urlaube am Wolfgangsee genießen.
 
 
 
 

Karsten Knolle ist Journalist in Quedlinburg. Er war Mitglied des Landtages von Sachsen-Anhalt und ist Mitglied des Europäischen Parlamentes und Kreisvorsitzender der CDU.