Volker Schimpff

1989. Eine konservative Revolution
 
  

I.

1989 war ein Epochenjahr, wie es die deutsche Geschichte nicht viele aufzuweisen hat. 1989 wurde eine totalitäre Diktatur unblutig gestürzt, der Deutschland und Europa teilende Eiserne Vorhang zerrissen, in unserem Vaterland und dem Alten Kontinent wurde der Freiheit eine Gasse gebrochen, durch die Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht, Demokratie und Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Eigenverantwortung ihren Weg fanden. 1989 war das Jahr des Triumphes von Solidarnocs in Polen, der singenden Revolution in Estland und der samtenen Revolution in Prag, der Öffnung des Stacheldrahtzaunes bei Ödenburg und des Falles der Berliner Mauer. Von dem vernehmlicher werdenden Grummeln der Unzufriedenheit mit den (selbstverständlich) gefälschten Kommunalwahlen über die Massenflucht und die Öffnung der ungarischen Grenze - die dem SED-Regime eine seiner furchtbarsten Waffen entriß: daß man ihm unentrinnbar ausgeliefert wäre - zu den großen Demonstrationen zuerst in Leipzig, Dresden, Plauen und Arnstadt: Die schweigende Mehrheit der Mitteldeutschen eroberte ihre demokratische Souveränität zurück. Von Montag zu Montag wuchs die Zahl der Demonstranten, die den Ring um Leipzigs Innenstadt füllten; aus einigen Tausend im September wurden es 20 000 am 2. Oktober, 70 000 am 9. Oktober - dem Tag, an dem die blutige "chinesische Lösung" drohte -, 120 000 am 16. Oktober, 300 000 am 23. Oktober, 400 000 am 30. Oktober.

Binnen eines Monats war die kommunistische Diktatur ins Wanken geraten. Doch in welche Richtung würde sie kippen? Eine friedliche Stagnation unter der Führung von KGB- und Stasi-"Reformern"? Eine "bessere DDR" mit einer bürgerbewegten Linken als neuer Blockpartei? Die bereits geplanten Massenverhaftungen, die Internierung der Verdächtigen und Unzuverlässigen? Oder systemerhaltende Massaker, wie die rotchinesischen Machthaber es auf dem Platz des Himmlischen Friedens vorgeführt hatten?

Gegen diese Alternativen hatten die protestierenden, Freiheit einfordernden Demonstranten wenig außer dem Mut aufzubieten, mit dem sie jeden Montagabend zum Leipziger Ring strömten - vorbei an den bereitstehenden Panzern, den wartenden isolierten, übermüdeten, aufgehetzten Soldaten und Bereitschaftspolizisten, den sichtbar mitgeführten Munitionskisten. Denn wenn wir Schwäche gezeigt hätten, wenn wir weniger statt mehr geworden wären, wenn die Stimmen der Sozialismus- und Zweistaatlichkeitsbefürworter lauter statt immer marginaler geworden wären, dann wäre dies das Signal an das kommunistische Regime gewesen, seine wankende Macht wieder aufzurichten.

Das wenige, was wir außer dem Mut mitbrachten, war die Hoffnung auf die immer leiser gewordenen Stimmen aus dem freien Westen unseres deutschen Vaterlandes, daß wir ein Volk und nicht vergessen seien. Daß diese Hoffnung nicht getrogen hat, verdanken wir vor allem einem Mann - dem Kanzler der Einheit, Helmut Kohl. An der Einheit in Freiheit nicht nur in Fest- und Sonntagsreden festzuhalten, sondern sie in der geschichtlichen Stunde gegen eine Welt von Neinsagern herbeizuführen, dieser großartigen Leistung verdanken wahrscheinlich Tausende - die sonst dem roten Terror zum Opfer gefallen wären - das Leben, Zehntausende die persönliche Freiheit, und Millionen Mitteldeutsche verdanken ihr ein Leben in Demokratie, Würde und Selbstbestimmung.
 
 

II.

Was 1989 und 1990 wie auf dem Leipziger Ring in Ostmitteleuropa und darüber hinaus geschah, war ein grundlegender Wandel der politischen und bald auch wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Es bedeutete einen radikalen Umsturz der bipolaren Weltordnung und entzog der Linken die Deutungshoheit über die geschichtsmächtigen Kräfte. Die umfassendste, expansivste, gefährlichste Diktatur der Weltgeschichte zerbrach und verschwand - nicht spurlos freilich, auch nicht restlos, erst recht nicht folgenlos. Eine solche radikale Umwälzung darf man Revolution nennen - um einen Ausdruck von Adam Michnik zu verwenden, eine antitotalitäre Revolution.

Ob und unter welchen Kriterien der Revolutionsbegriff für 1989 gerechtfertigt ist, füllt schon kleine Bibliotheken und soll hier nicht beschäftigen. Der Widerstand gegen diesen Begriff mag unbegründet sein, aber er ist verständlich. Im Munde des Konservativen hat er einen pejorativen Beigeschmack, verbindet er doch seit zwei Jahrhunderten mit ihm das zu vermeidende und auszugleichende Mißgeschick. Dem Patrioten ist er durch das Scheitern von 1848/1849 und den Mißbrauch des Nationalen 1933 suspekt. Den Liberalen schrecken die blutigen, destruktiven Umverteilungsrevolutionen des 20. Jahrhunderts mit ihren illiberalen Vorgängen und Ergebnissen. Für die Sozialisten jeglicher Farbe verbindet sich mit 1989/1990 gerade das geschichtliche Scheitern all dessen, was sie seit Generationen als ihre Domäne betrachteten. Sie sind nicht gewillt, den Revolutionsbegriff mit Konservativen, Nationalen, Liberalen zu teilen. Auch ihr intellektuelles Umfeld sieht die ostmitteleuropäische Volkserhebung von 1989 durch diesem Blickwinkel und ist ehestens geneigt, in den Ereignissen eine gescheiterte Revolution zu erblicken.

Unter den Attributen und Epitheta für den Herbst 1989 wird in Sachsen zumeist auf den friedlichen Ablauf der Ereignisse verwiesen. Die Leistung der Demonstranten ist nun freilich nicht, daß die Revolution friedlich blieb - denn die Mittel wie die Organisation zu einem anderen Vorgehen standen niemals auch nur ansatzweise zur Verfügung -, vielmehr ist es ihr erzielter Erfolg, obwohl sie nur friedlich handeln konnten. Bis zur Solidarnocs-Erfahrung in Polen ein Jahrzehnt zuvor war ernstlich nicht an die Möglichkeit der Überwindung eines kommunistischen Regimes auf diesem Wege zu denken gewesen. Bis zur Ausfüllung (und Ausweitung) der durch Perestrojka und Glasnost zeitweilig zugestandenen Freiräume war an eine Partizipation bei Änderungen im staatlichen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen System ebensowenig zu denken gewesen. 1989 reichten diese Erfahrungen aus, um in einer friedlichen Revolution die kommunistische Staatsmacht abzuschaffen.

Je weiter wir zeitlich von diesen Ereignissen in Mitteldeutschland entfernt sind, desto einseitiger wird der publizistische Blickwinkel auf sie. Wer über diese Revolution schreibt, tut dies zunehmend aus dem Blickwinkel derer, die an ihr nicht beteiligt waren oder deren Wünschen sie nicht entsprach. Hellsichtig bemerkte Bärbel Bohley über die Demonstrationen in Leipzig: "Die waren spontan entstanden; da sind Leute ohne Führung durch die Straßen gezogen und haben das Tempo der Veränderung angegeben." Intellektuelle waren hier nicht die Wortführer. In anderen ostmitteleuropäischen Ländern war das etwas anders, da saßen die Denker nicht alimentiert im rosaroten Elfenbeinturm. Aber auch dort gab keine Revolution für utopische Entwürfe des neuen Menschen und der neuen Gesellschaft.

Intellektuelle fragen aber nach ihresgleichen, sie suchen nach Vordenkern – die der "dumpfen" Masse voraneilen und sie vorwärtstreiben - und sie verlangen von der Revolution neue Ideen und neue Konzepte; die Betonung liegt auf "neue", auf utopischen Ideen und Konzepten, auf Experimenten mit Staat, Gesellschaft und Menschen. Daher überschätzen sie den Änderungswillen und die verändernde Rolle Gorbatschows. Wie ein matter Schatten der in Verschwörungstheorien befangenen kommunistischen Machthaber, die stets hinter Widerständen "konterrevolutionäre Zentralen" vermuteten, fragen sie nur nach den Organisatoren und verlieren den Faden, wenn der Verlauf der Volkserhebung nicht mit den Wünschen der frühen Aktivisten aus den Bürgerrechtsbewegungen und kirchlichen Basisgruppen übereinstimmte. Sie drücken immer unmißverständlicher ihr Unbehagen darüber aus, daß Arbeiter und Angestellte und nicht Intellektuelle und Alternative die Handelnden waren. Sie vermissen die Antipolitik-Konzepte der ostmitteleuropäischen Literaten und übersehen, daß diese sich nicht gegen die Politik in demokratischen Rechtsstaaten richtete, sondern gegen den totalitären Anspruch auf den zum kollektiven Passivum gemachten Menschen, also gegen die konkrete totalitäre Politik des real existierenden Sozialismus. Kurz: Sie suchen die linkslastige Nähe der political correctness und müssen die Millionen Menschen, die Tempo und Inhalt der Revolution angaben, die ohne utopische Entwürfe und organisierende Zentralen nicht nur den Realsozialismus wegdemonstrierten, sondern jeglichen Sozialismen absagten, als störend, als irrend oder als (von konterrevolutionären Zentralen oder der - von einem späteren Bundesinnenminister verächtlich in die Fernsehkamera gezeigten - Banane) ferngesteuert ansehen.

Der Charakter unserer Revolution läßt sich aber so nicht erfassen. Die ostmitteleuropäische Revolution von 1989 war eine Volkserhebung gegen die kommunistisch herrschende Linke. Sie war für die Beteiligten riskant wie jede Revolution, sie verlief dennoch friedlich, und sie war trotzdem erfolgreich.
 
 

III.

Am Anfang der Revolution stand - noch die sich dann abzeichnende Differenzierung der Ziele überspannend - die Ablehnung des aktuellen totalitären Herrschaftssystems. Die diktatorische SED-Herrschaft zu beseitigen war ursprüngliches Anliegen der Demonstranten. Positiv ausgedrückt: Die Liebe zur Freiheit brachte sie auf die Straße.

Vielfach stand als Antrieb die primäre Erfahrung des Kommunismus als Eingesperrtsein dahinter. Die Fluchtwelle des Sommers 1989 in die "sozialistischen Bruderstaaten" steigerte die nach den Kommunal"wahlen" vom Mai vorhandene Spannung; das Paneuropa-Picknick bei Ödenburg und die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze für DDR-Bürger beendeten das Gefühl, hoffnungslos eingesperrt zu sein; die Aufhebung des visumfreien Reiseverkehrs mit der Tschechoslowakei bedrohte im Gegenzug mit einer noch weiter getriebenen Einengung und steigerte Verzweiflung und Empörung. "Die Mauer muß weg" hieß es schon im Oktober immer wieder in vielfältigen Variationen auf den Leipziger Montagsdemonstrationen, "Visumfrei bis Hawai" und ähnliche Sprechchöre beschrieben den Wunsch nach Reisefreiheit, den auch die systemkonformen Lockerungsversprechen nicht befriedigen konnten: "Wir brauchen keine Gesetze - die Mauer muß weg".

Sprechchöre dieser Art waren die Artikulationsmöglichkeit bei fehlender Pressefreiheit. Sie waren zugleich das Gegenteil sowohl der damaligen kommunistischen Medien mit straff geführten Parteijournalisten als auch der heutigen freien Medien, in denen privilegierte Journalisten ans Volk verlautbaren: Die Sprechchöre der Montagsdemonstrationen waren Massenmedien in dem Sinne, daß sich die Massen durch sie artikulieren konnten. Die damals von den ersten westlichen Journalisten der Meinung des "kleinen Mannes", der bis dahin schweigenden Mehrheit gezollte Aufmerksamkeit ist leider alsbald wieder und bis heute rar geworden.

Das Streben nach Freiheit konnte auch so deutlich ausgedrückt werden, weil es über die Aufhebung der alltäglichen Belastungen hinaus an einem vorhandenen, erfolgreichen Modell der Geltung bürgerlicher Freiheitsrechte und allgemeiner Menschenrechte vor Augen stand. Es war das Beispiel im anderen Teil unseres gespaltenen vaterlandes, in der Bundesrepublik Deutschland. Dieses westliche Vorbild wirkte auf die Menschen in Mitteldeutschland noch stärker als in den anderen ostmitteleuropäischen Staaten, weil über das allgemeine Empfinden der kommunistischen Diktatur als einer von der Sowjetunion oktroyierten Fremdherrschaft hinaus das Bewußtsein, daß die fremde Herrschaft die zusammengehörige Nation gespalten habe, die Verhältnisse in Westdeutschland als die eigentlich eigenen, nur vorenthaltenen Verhältnisse erschienen. Der Sprechchor "Freiheit! Freiheit!" wurde im November folgerichtig um Zeile des Deutschlandliedes "Einigkeit und Recht und Freiheit" ergänzt.

Sozialistische Illusionen hatten deshalb auf den Montagsdemonstrationen sehr schnell keinen Platz mehr. Nach dem Oktober habe ich dort die "Internationale" nicht mehr gehört: Ihr ursprünglich von manchen als emanzipatorisch verstandener Text wurde jetzt abgelehnt. Nach Jahrzehnten, in denen eigenen Gedanken nur in sozialistischer Kostümierung ausgesprochen werden konnten, brach das Selbstbewußtsein der Demonstranten durch. Entgegen einer linken Legende lag diese Entwicklung zeitlich vor dem Mauerfall und war unbeeinflußt von der "Verführung" durch Bananen, ordentliche Straßen und gefüllte Schaufenster eingetreten.

Die erstrebte Freiheit äußerte sich vor allem in Forderungen nach dem in der Bundesrepublik verwirklichten demokratischen Rechtsstaat und nach einer leistungsfähigen marktwirtschaftlichen Ordnung.

Auch hierbei erwies sich das durch die Klammer der gemeinsamen Nation legitimierte Beispiel eines von der sozialistischen "Volksdemokratie" unterschiedenen bürgerlichen Demokratie als zielgebend. In großen Teilen der DDR war die Bevölkerung seit langem allabendlich um 20 Uhr sozusagen ausgewandert - wenn die Tagesschau der ARD begann, wuchsen beide deutschen Staaten zu einem einheitlichen politischen Kommunikationsraum zusammen.

Die Demonstranten eroberten mit dem seit Anfang Oktober immer wieder zu hörenden Ruf "Wir sind das Volk" - der auch knüppelnden "Volkspolizisten" und bewaffneten Soldaten der "Volksarmee" entgegengehalten wurde - den Begriff der Volkssouveränität zurück. Und zwei Wochen nach dem Machtantritt von Krenz stand auf einem Leipziger Transparent: "14 Tage nach der Wende gebt der Diktatur ein Ende!" Die Gegenüberstellung des westdeutschen Rechtsstaates mit dem Unrechtsstaat DDR drückten Transparente wie "Rechtssicherheit ist die beste Staatssicherheit" aus.

Die Forderung nach einer Marktwirtschaft und die ausgesprochene Berufung auf traditionelle Leistungswerte in Herbst 1989 mögen heute - angesichts einer eher egalitären und sozialstaatlichen Einstellung - überraschen. Die Erinnerung an die sozialistische Armut und die technische Stagnation sind wohl schnell geschwunden, die damals zur klaren Sicht auf die Ursachen geführt hatte. 1989 wurde ein dritter Weg nachdrücklich abgelehnt und eine modernisierende Umgestaltung der Wirtschaft nach westlichem Vorbild gefordert. Ein Leipziger Transparent Ende Oktober verlangte bündig: "Freie Wahlen, freie Märkte, Mauer weg!" Und ich entsinne mich, einem britischen Journalisten gesagt zu haben, Margaret Thatcher müßte doch eigentlich ihrem Schöpfer auf Knien danken, daß in Leipzig Tausende Arbeiter für die - wohlgemerkt - freie Marktwirtschaft demonstrieren.

Westliche Verhältnisse waren seit Oktober 1989 das bewußte Ziel der Demonstranten. Das gründete auch in der deutschen Besonderheit, daß westdeutsche Verhältnisse als Vergleich, Vorbild und eigentlich deutsche Verhältnisse auch für die Mitteldeutschen legitimiert erschienen - die Mitteleuropa-Debatten ostmitteleuropäischer Dissidenten und der Ruf "Rückkehr nach Europa" hatten in anderen kommunistisch beherrschten Ländern eine vergleichbare Funktion. Westliche Verhältnisse wurden bereits vor dem Mauerfall bewußt angestrebt; die unmittelbare Anschauung des erfolgreichen anderen Systems in Deutschland hat diese Absicht nur noch befestigt.
 
 

IV.

Wenn nach 57 Jahren sozialistischer Diktaturen Hunderttausende, Millionen Menschen auf die Straße gehen, wenn sie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft verlangen, wenn Jahrzehnte der Indoktrination, der Furcht und der Anpassung von ihnen überwunden werden, wenn dadurch ein totalitärer Staat binnen Jahresfrist zerbrochen und verschwunden ist, ohne daß Chaos ausbricht - dann müssen alle diese Menschen von etwas beseelt gewesen sein, das sie dazu trieb und befähigte. Zu wenig ist bisher nach dem gefragt worden, was die Menschen im Herbst 1989 zu dieser deutschen Revolution getrieben und befähigt hat. Schaut man weiter und faßt die Gesamtheit der ostmitteleuropäischen Revolution ins Auge, stellen sich dieselben Fragen.

Wie kein Umbruch seit der Reformation ist die Revolution von 1989 christlich fundiert gewesen. Das steht nur scheinbar im Gegensatz zu der abzählbaren Dechristianisierung Mitteldeutschlands während der sozialistischen Diktaturen. Die Kirchen gaben einen Raum, in dem die Angst vor weltlichen Repressionen zurückgedrängt werden konnte und in dem sich in den achtziger Jahren unabhängige Gruppen für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung fanden. Ihre Tätigkeit in einem totalitären Staat war systemwidrig und unterwanderte ihn. Wer einen Ausreiseantrag gestellt hatte, fand in den Kirchen Gleichgesinnte. Von den Kirchen gingen die Friedensgebete als Keimzelle der großen Demonstrationen aus. Daß die Demonstranten weder Gewalt noch Gegengewalt ausübten, ist auch diesem Einfluß zu danken. Der Leipziger Historiker Hartmut Zwahr nennt unsere Revolution schon allein durch ihren friedlichen Verlauf und die Wirkungsmacht des politischen Handelns christlicher Gemeinschaften historisch neuartig. Wenn es auch keine so überragende Rolle des Glaubens und der Kirche für die Revolution wie in Polen gab, so ist auch die deutsche Revolution von 1989 ohne die Beachtung christlicher Verantwortung nicht zu verstehen. Unter den Amts- und Mandatsträgern nicht nur der Union, sondern auch anderer nichtkommunistischer Parteien in Mitteldeutschland überwiegen bis heute - entgegen ihrem geringen Anteil an der Bevölkerung - die bekennenden Christen.

Ein anderer Zufluchtsort vor dem totalitären Staat war die Familie. Obwohl die Spitzel der Staatssicherheit auch bis in die Familien eindrangen und lange Zeit versucht wurde, die Familie durch das "Kollektiv" zu ersetzen, waren Familienbindungen fest und verhältnismäßig frei von staatlicher Vereinnahmung. Die von ostmitteleuropäischen Dissidenten proklamierte antitotalitäre "Antipolitik" hatte ihren vorrangigen Platz in den Familien. Hier wurden traditionelle Werte und Erfahrungen weitergegeben, die die kommunistische Diktatur vergeblich zu besetzen oder zu unterdrücken versuchte. Das Bewußtsein der staats- und blockübergreifend weiter existierenden gemeinsamen deutschen Nation und ihrem vom offiziellen Geschichtsbild unterschiedenen Werdegang wurde ebenso in den Familien tradiert wie die Überzeugung, daß es Grenzen der Zusammenarbeit mit dem Regime gibt: Spitzeldienste für die Staatssicherheit sind unanständig.

Die stärkste geschichtliche Wirkungsmacht entfalteten 1989 die nationalen Fragen. In den meisten ostmitteleuropäischen Staaten waren sie mit der Befreiung von der sowjetischen Vorherrschaft, im Baltikum sogar direkten Herrschaft, verbunden; in Jugoslawien trat der Kampf um die nationale Selbstbestimmung an deren Stelle, in Mitteldeutschland überlagerte er die Auseinandersetzung mit der ursächlichen - aber der von der DDR nicht vollzogenen Perestrojka wegen weniger schroff gesehenen - sowjetischen Fremdherrschaft.

Die Ereignisse des Herbstes 1989 offenbarten ein starkes, ungebrochenes Nationalbewußtsein, das die DDR-Führung offensichtlich überraschte und das so breit auch in der alten Bundesrepublik nicht mehr deutlich wurde. Schon die "Die Mauer muß weg"-Rufe enthielten immer ein nationales Element. Deutlich vor dem vielbesprochenen Wechsel von "Wir sind das Volk" zu "Wir sind ein Volk" wurde auf Leipziger Montagsdemonstrationen "Wiedervereinigung! Der Anfang ist gemacht" (bezogen auf den Mauerfall) geschrieben und "Deutschland einig Vaterland" skandiert. Die vom Neuen Forum zugelassenen Redner zu Beginn der Montagsdemonstrationen, die sich gegen die deutsche Einheit aussprachen, vertraten nicht mehr die Meinung der Demonstranten und wurden trotz der tontechnischen Verstärkung ihrer Reden von den Sprechchören auf dem Platz "Deutschland! Deutschland!" und "Wir sind Deutsche!" übertönt. Schwarzrotgold auf Transparenten und die schwarzrotgoldenen Fahnen, besonders diejenigen mit dem herausgeschnittenen Spalteremblem, prägten das Bild vieler Veranstaltungen.

Stärker in Dresden als in Leipzig sah man frühzeitig neben den deutschen auch die sächsischen Farben. Beim Besuch des Bundeskanzlers Helmut Kohl in Dresden am 19. Dezember verband ein Transparent "Bundesland Sachsen grüßt den Bundeskanzler" die Forderung nach Einheit in Freiheit mit derjenigen nach der Abschaffung des sozialistischen Zentralismus und der Wiederherstellung des alten, von den Nationalsozialisten gleichgeschalteten und von den Kommunisten abgeschafften Landes.

Am Abend des 19. Dezember faßte Helmut Kohl mit sicherem Gespür für die Geschichtsmächtigkeit der traditionellen Werte an der Ruine der Dresdner Frauenkirche Glauben und Nation in dem Wunsch zusammen: "Gott segne unser deutsches Vaterland!" Hunderttausend jubelten ihm zu. Von da an wäre die Wiedervereinigung in Freiheit nur noch durch ein Blutbad oder eine Regierung Lafontaine zu verhindern gewesen.
 
 

V.

Die streikenden Arbeiter der Solidarnocs und die protestierenden Massen in Prag und Bukarest, die Mitglieder der Volksfronten im Baltikum und der Unabhängigkeits- und Demokratiebewegungen in Slowenien und Kroatien hatten den gleichen Antrieb wie die Demonstranten in Mitteldeutschland. Es waren die von den Kommunisten unterdrückten und deshalb unmittelbar politisch wirksamen überlieferten Werte und Ideale, die das Volk befähigten, die KP-Diktaturen zu stürzen: Glaube, Familie, Nation, Heimat, Europa. Die Volksbewegung von 1989 war eine ostmitteleuropäische Freiheitsrevolution, die sich auf die Wiederherstellung bewährter, vorkommunistischer und die Herstellung bürgerlicher, westlicher Verhältnisse - nicht nur in den Augen der zu stürzenden Diktaturen war dies zielgleich - richtete: bürgerliche Freiheits- und allgemeine Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft. Neue utopische Konzepte, dritte Wege, "bessere" Sozialismen wurden radikal abgelehnt: "Keine Experimente mehr!"

Aus Sicht der mit der Diktatur direkt oder durch gemeinsame Ideologie verbundenen Linken war die Revolution von 1989 eine Konterrevolution. Ihre Einschätzung als (gegenüber dem Westen) "aufholend" oder als "wiederherstellend" ist ebenso gerechtfertigt wie die Beschreibung nach der Stoßrichtung als antikommunistische und als antitotalitäre Revolution, nach dem Ergebnis als national-demokratische Revolution und als Freiheitsrevolution oder nach dem Vorgehen als friedliche Revolution.

Stellt man hingegen die Frage, wer die Revolution gemacht hat, was Millionen diktaturgewohnte Menschen zu dieser Aufwallung von Mut und Entschlossenheit brachte, was sie dazu befähigte, spontan und nahezu synchron in ihren Ländern die Herrschaft der Kommunisten zu stürzen, dann sind wir bei ihren konservativen Werten, Ideen und Zielen.

Die ostmitteleuropäische Freiheitsrevolution 1989 war eine konservative Revolution. Sie wäre nicht möglich geworden ohne ein Fundament von Werten, die von den Kommunisten nicht zerstört werden konnten. In Polen ist hier besonders auf die katholische Kirche zu blicken, in Deutschland auf das Ziel der nationalen Einheit. An dieses Fundament von Werten, das in einer schnellebigen Zeit ebenso in Vergessenheit geraten kann wie die totalitäre Diktatur, der wir auf diesem Fundament trotzen konnten, sollte immer wieder erinnert werden.

In ganz anderem Sinne als "konservative Revolution" hatte der große kommunistische Sozialwissenschaftler Jürgen Kuczynski im November 1989 die Ereignisse bezeichnet; er erwartete eine den Sozialismus bewahrende und erneuernde Revolution. Diese Anwendung des Begriffes "konservativ" ist falsch und ehestens noch mit der (zweifelhaften) Kategorie "strukturkonservativ" zu verbinden. 1989 ging es nicht um sozialistische, sondern um konservative Inhalte - in der eben genannten Kategorisierung "wertkonservative". In diesem Sinne war die Freiheitsrevolution 1989 vor allem eine konservative Revolution.

Sie war eine Revolution auf konservativen Werten und mit konservativen Zielen. Sie erneuerte die bürgerliche Ordnung - Demokratie, Herrschaft des Rechts, Privateigentum, Zivilgesellschaft, Marktwirtschaft. Sie befreite die Nationen - Ende der sowjetischen Fremdherrschaft, Wiedervereinigung in Deutschland, Unabhängigkeit, europäische Einigung - und bewies gegen den Zeitgeist, daß die Erkenntnis der Völker weiter reicht als die Kenntnisse der Politiker und Publizisten. Sie bejahte die Institutionen, die sie nicht zerstören, sondern freiheitlich-demokratisch umgestalten wollte; man hat sie daher auch eine Verfassungsrevolution genannt. Institutionen, Ordnung, Leistungsbereitschaft, Verantwortung und Disziplin waren den Revolutionären von 1989 eigene Werte. Im Munde des Konservativen hat diese Revolution kein Odium.

Eine so erfolgreiche Revolution ist selten in der deutschen Geschichte.

Friedlich, konservativ, erfolgreich - das bringen die Mitteldeutschen in die deutsche Einheit ein, das bringen die Ostmitteleuropäer in die europäische Einigung ein. Die konservative Revolution von 1989 gilt es zu bewahren: Freiheitsrechte gegen die political correctness, Demokratie in Europa gegen die Sozialistische Internationale, Eigentum und Marktwirtschaft gegen den Superstaat, Glauben gegen den Zeitgeist, Familie gegen ihre forcierte Entrechtung, Nation gegen National- und Euromasochismus, Heimat gegen den Multikulturalismus ...

1989 war ein Epochenjahr. Es war der Beginn des konservativen 21. Jahrhunderts.
 
 
 
 

Volker Schimpff ist Archäologe. Er war stellvertretender Landesvorsitzender der CDU und Vorsitzender der CDU-Fraktion im Leipziger Stadtrat und ist Vorsitzender des Verfassungs- und Rechtsausschusses des Sächsischen Landtages sowie Vorsitzender des Arbeitskreises Europapolitik der CDU-Landtagsfraktion.