Norbert
Spannenberger
Ungarn
begeht heuer ein doppeltes Jubiläum: es feiert die tausendjährige Staatsgründung
und die damit unzertrennlich verbundene Christianisierung unter König Stephan
dem Heiligen aus dem Arpadenhaus. Dieses herausragende Ereignis hat durchaus
europäische Dimensionen: nicht nur, weil der Staat Ungarn zu einer Zeit gegründet
wurde, als die europäische Idee der renovatio
imperii Romanorum durch Papst Silvester II. und Kaiser Otto III. ihren
Auftrieb erhielt, sondern auch weil damit der Beginn einer vielschichtigen,
wechselvollen und fruchtbaren Beziehungsgeschichte zwischen Deutschland und
Ungarn datiert wird.
Auch
als Historiker hat Helmut Kohl seine besondere Sympathie für Ungarn stets
bekundet und erinnerte nicht zuletzt in Fernsehinterviews auf die
Gemeinsamkeiten deutsch-ungarischer Geschichte. Auch die im Zuge des
Transformationsprozesses durchgeführten Reformen wurden vom Bundeskanzler Kohl
öfters deutlich gewürdigt. Dabei wird Ungarn bis zum heutigen Tag in den
Medien sowie in der Fachliteratur nicht zuletzt für seinen Minderheitenschutz
eine beispielhafte Leistung in der Region bescheinigt.[1]
Doch inwiefern erfüllt dieses Gesetz das ihm bescheinigte Funktion hinsichtlich
der Ungarndeutschen? Ist es tatsächliche eine Garantie oder kann es zumindest
einen Beitrag für den Erhalt dieser Minderheit leisten?
Das
Gesetz LXXVII/1993 über die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten
wurde am 7. Juli 1993 wurde im ungarischen Parlament mit einer überwältigenden
Mehrheit von 96% verabschiedet. Am 11. Dezember 1994 konnten die 13 in diesem
Gesetz anerkannten Minderheiten[2]
zum ersten mal ihre eigenen Gremien, die sog. Minderheitenselbstverwaltungen wählen.[3]
Vier Jahre später erfolgten erneute Wahlen. Im Gesetz wurden unter anderem die
Minderheiten als staatsbildende Faktoren anerkannt und die relevanten europäischen
Normen berücksichtigt. Nach der Intention der Gesetzgebung sollten die
rechtlichen Rahmenbedingungen die Selbstvertretung der Minderheiten ermöglichen
und fördern, folglich die Nachteile der Zugehörigkeit zu einer Minderheit
kompensieren.[4]
Garant und Hüter auch hinsichtlich der Durchführung dieser Gesetzesbestimmung
erklärte sich der Staat selbst – dieser sollte auch die Finanzierung der in
Aussicht gestellte „Kulturautonomie“ sicherstellen.
Das
lebhafte Interesse in der ungarischen Presse nahm schon bald nach den ersten, äußerst
erfolgreich durchgeführten Wahlen vom 11. Dezember 1994 ab. Die meisten Aktivität
zeigten die Ungarndeutschen: Sie wählten insgesamt 162
Minderheitenselbstverwaltungen in den von ihnen bewohnten Kommunen. Allzu bald hätten
jedoch die Medien überwiegend von Problemen berichten können – was
allerdings lieber vermieden wurde. Diese Probleme resultierten aus zwei Gründen:
Erstens waren die Defizite des Gesetzes schon kurz nach dessen Verabschiedung in
der Praxis deutlich zu erkennen. So etwa wurde weder die finanzielle
Verpflichtung des Staates noch die Kompetenz zwischen kommunaler und
Minderheitenselbstverwaltung deutlich geregelt.[5]
Daraus ergab sich aber zweitens, daß das „relativ gering(e)“ „politische
Bewußtsein der Deutschen“[6]
keine Grundlage bildete, wie politische Akteure zu handeln. Die aufgrund der großen
Mobilität angenommene „Mündigkeit“ der deutschen Minderheit erwies sich
als Fata Morgana im politischen Alltag. Von vornherein wurde nämlich von den
gewählten Gremien (nicht nur) der Deutschen meist peinlichst vermieden, sich
mit den staatlichen Behörden auf jedwede Auseinandersetzung einzulassen. Wenn
doch, so wurde darüber nur im Einzelfall berichtet.[7]
Erst nachdem die vorhandenen Problemen nicht mehr unter den Teppich zu kehren
waren nahmen die kritischen Analysen auch in der offiziellen deutschsprachigen Neuen
Zeitung in Budapest zu. Sehr schematisch betrachtet blieb von der
„Kulturautonomie“ lediglich soviel übrig, daß mehr Gelder als früher für
kulturelle Veranstaltung, die allzu häufig Folklore bedeuten, zur Verfügung
stehen bzw. dank bundesdeutscher Geldgeber zusätzlich beantragt werden können.
Es
bedarf einer gründlicher Korrektur des viel gepriesenen Gesetzes, wozu
allerdings weder die Parlamentsabgeordneten noch die jeweilige Regierung geneigt
ist. Deshalb drohte der dafür gar nicht zuständige Ombudsmann mit einer
Eigeninitiative.[8]
Nicht zuletzt dadurch ist ersichtlich, daß ungarische Behörden bei der
Ausarbeitung des Gesetzes von anderen Prämissen ausgegangen waren: Das Gesetz
sollte nämlich mitunter auch in dieser Hinsicht die Reife der jungen Demokratie
im Dienste der EU-Beitrittsverhandlungen bestätigen sowie als nachahmenswertes
Vorbild für die Nachbarländer Ungarns fungieren, wo ansehnliche ungarische
Volksgruppen leben. Dabei scheint eine untergeordnete Rolle zu spielen, daß der
Ombudsmann darüber beklagt, daß die Kommunalbehörden die Zuschüsse für den
Minderheitensprachunterricht – gelinde ausgedrückt - entfremden oder der
ungarische Geheimdienst diese legitim gewählten Vertreter der Minderheiten
beschatten läßt oder trotz Mahnung des Verfassungsgerichtes die im Gesetz
zugesicherte parlamentarische Vertretung der Minderheiten noch immer nicht gelöst
ist.[9]
Der inzwischen abgedankte Vorsitzende der Landesselbstverwaltung
der Ungarndeutschen, Lorenz Kerner, beklagte die Diskrepanz zwischen Realität
und dem festgefahrenen Klischee der „Mustergültigkeit“ ungarischer
Minderheitenpolitik. Er prangerte die Zustände mitunter im Medien- und im
Schulbereich an.[10]
Der
alarmierende Sprach- und Identitätsverlust der deutschen Minderheit in Ungarn
stellt aber auch die Frage, ob die Minderheit selbst ihren Willen zu
Weiterbestehen bekundet. Diese Defizite unter den Angehörigen der Minderheit
selbst veranlaßte schon 1994 Experten, diese Frage zu stellen.[11] In der wissenschaftlichen
Fachliteratur bisher nur unzureichend reflektierte Analysen anhand von
Fallstudien würden sie allerdings vermutlich mit ja beantworten.[12]
So berichtete die Frankfurter Allgemeine
Zeitung anläßlich des Besuches von Joschka Fischer in der Heimatgemeinde
seiner Eltern, im einst überwiegend von Deutschen bewohnten Budakeszi:
„Selbst die gewählten Vertreter der deutschen Minderheitenselbstverwaltung
tun sich im Ungarischen leichter als im Deutschen und geben als politisches Ziel
die 'Verlangsamung der Assimilation' an. Es blieb Ungarns Außenminister
Martonyi vorbehalten, in gutem Deutsch die „unmenschliche, ungerechte und
rechtswidrige Vertreibung“ der Ungarndeutschen zu bedauern, durch welche
Ungarn sich selbst einen großen Verlust zugefügt habe“.[13]
Schon die Feststellung der Anzahl der Ungarndeutschen ist aus diesem Grund
problematisch: Nach den offiziellen Angaben der Volkszählung von 1990 bekannten
sich nur 37.511 Personen zur deutschen Muttersprache und 30.824 zur deutschen
Nationalität.[14] Zugleich geht man
allerdings von ca. 500.000 Personen aus. Während einige Vertreter der
Minderheiten sich für ein „Minderheitenregister“ aussprechen, um die
Wahlberechtigten der Minderheitengremien festzustellen, wehren sich die meisten
Angehörigen der Minderheit dagegen. Diese Abwehrhaltung ist mit den negativen
Erfahrungen im 20. Jahrhundert zu erklären, der Schock sitzt insbesondere bei
der Erlebnisgeneration tief.[15]
Die
unzweideutige Sprache ungarischer Politiker auch über die Vertreibung als
Vergangenheitsbewältigung dürfte dazu beitragen, daß die Einigkeit in der
Auffassung und Behandlung der Minderheitenproblematik in der Region zwischen
deutscher und ungarischer Außenpolitik allzu deutlich ist. Während Ombudsmann
Kaltenbach im Gesetz schon 1995 zunächst „ein Experiment, dessen Ergebnis noch nicht
abzusehen“ (sei) sehen wollte[16],
glaubte Bundesaußenminister Klaus Kinkel erkennen zu können, daß die Lage der
deutschen Minderheit in Ungarn „geregelt“ sei.[17]
Welche praktische Auswirkung diese Zufriedenheit stimulierende Feststellung
haben sollte, machte Staatssekretär Horst Waffenschmidt im September 1995 anläßlich
seiner Reise nach Budapest deutlich: Das ungarische Modell soll Perspektiven für
aussiedlungswillige Deutschen in Südosteuropa bieten.[18]
Diese Intention wurde von dem baden-württembergischen Innenminister Birzele im
darauffolgenden Jahr unterstrichen, wobei er Rumänien namentlich erwähnte.[19]
Spätestens jetzt mußten Beobachter der deutschen Minderheit zur Kenntnis
nehmen, daß in der Strategie bundesdeutscher Außenpolitik die Lage der
Ungarndeutschen nicht aus dem Blickwinkel konnationaler Solidarität, sondern im
Zusammenhang globaler, migrationspolitischer Überlegungen behandelt wird.
Dadurch erhielten auch die von der Bundesregierung in Aussicht gestellten
Hilfsmaßnahmen andere Qualität: sie sollte lediglich als Lockmittel für den
Verbleib in der angestammten Heimat dienen.
Mit
dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz wurde
der nach dem Zweiten Weltkrieg eingeräumte Anspruch auf Aussiedlung
hinsichtlich der Ungarndeutschen abgeschafft. Das in Ungarn verabschiedete
Minderheitengesetz vermochte seine von der bundesdeutschen Tagespolitik
zugewiesene Aufgabe nicht zu erfüllen und es wird nicht dazu beitragen können,
die Existenz der deutschen Minderheit in Ungarn zu sichern. Die zunehmende und häufig
als unumkehrbar beschriebene Assimilation dieser Minderheit darf aber nicht darüber
hinweg täuschen, daß es viele unter deren Angehörigen Leidtragende des
Zweiten Weltkrieges sind, die im Interesse der Bewahrung ihres Deutschtums als
einzigen Weg die Umsiedlung ins Mutterland sehen – die aber keine Möglichkeit
mehr dazu haben. Daran wird auch die gründliche Umarbeitung des
Minderheitengesetzes, wonach die Minderheiten relevante Institutionen übernehmen
sollten, nichts ändern.[20]
Das Jahr 1000 bedeutete den Beginn der Einwanderung der Deutschen ins ungarische
Königreich. Ob das Jahr 2000 den Abschluß dieser Geschichte einleitet?
Dr. Norbert Spannenberger ist ungarndeutscher Historiker
aus Mohacz und arbeitet in Leipzig.
[1] Pars pro toto sei hier auf die Monographie Georg Brunner, Günter H. Tontsch, Der Minderheitenschutz in Ungarn und in Rumänien. Bonn 1995, S. 9-129, verwiesen.
[2] Zu diesen 13 in insgesamt 1.500 Gemeinden ansässigen Minderheiten zählen die Armenier, die Bulgaren, die Deutschen, die Griechen, die Kroaten, die Polen, die Roma, die Rumänen, die Ruthenen, die Serben, die Slowaken, die Slowenen und die Ukrainer. Vgl.: Fakten über Ungarn [Herausgegeben vom Außenministerium der Republik Ungarn] 1995/2: Nationale und ethnische Minderheiten in Ungarn.
[3] Eine ausführliche Darstellung über die Genesis und den Inhalt des Gesetzes in deutscher Sprache siehe Kathrin Sitzler, Gerhard Seewann, Das ungarische Minderheitengesetz. Vorbereitung, Inhalt, öffentliche Diskussion. In: Gerhard Seewann (Hg.), Minderheiten als Konfliktpotential in Ostmittel- und Südosteuropa, München 1995, S. 352-387.
[4] Vgl. Fakten über Ungarn (Fn. 2) 1994/3: Das Gesetz LXXVII vom Jahr 1993 über die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten.
[5] Auf die Finanzierungsschwierigkeiten wies schon im Vorfeld der Ombudsmann für die Minderheiten Jenö Kaltenbach hin. Vgl. ders.: Das ungarische Minderheitengesetz. Zielsetzung und Akzeptanz. In: Minderheiten als Konfliktpotential (Fn. 3), S. 346-351.
[6] Vgl. Georg Brunner, Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonflikte in Osteuropa. Strategien und Optionen für die Zukunft Europas, Gütersloh 1993, S. 50.
[7] So etwa die Tageszeitung Magyar Hírlap vom 23. Februar 1996.
[8] Magyar Nemzet vom 13. Januar 1999.
[9] So dürfte nach Meinung von Kaltenbach vielleicht die Hälfte der 3,5 Milliarden Forint die vorgesehenen Schulen mit Minderheitenunterricht erreichen. Magyar Hìrlap vom 4. Juni 1998.
[10] So Kerner auf der Tagung des Verbandes Ungarndeutscher Studentenschaft am 25./26. September 1998.
[11] Vgl. Sitzler, Seewann (Fn. 1), S. 387.
[12] Siehe dazu Norbert Spannenberger, Das ungarische Minderheitengesetz von 1993 und die Ungarndeutschen. In: Ungarn-Jahrbuch 22/1995-1996, S.245-260.
[13] FAZ vom 8. Januar 1999.
[14] Vgl. Fakten über Ungarn (Fn. 2) 1995/2.
[15] Vgl. Magyar Nemzet vom 13. Januar 1999.
[16] FAZ vom 18. November 1995.
[17] Magyar Nemzet vom 1. Oktober 1995.
[18] Magyar Nemzet vom 11. September 1995.
[19] Der Neue Pester Lloyd vom 24. April 1996.
[20] Magyar Hírlap vom 21. Februar 2000.